Lackmustest für Fairness-Kompass

Spenderorgane sind ein knappes medizinisches Gut. So gibt es derzeit in der Schweiz ¨¹ber 1140 Menschen, die auf eine neue Niere warten. Aber nur 77 Patienten haben im ersten Halbjahr 2016 eine erhalten. Das Bundesamt f¨¹r Gesundheit hat deshalb soeben eine Kampagne gestartet, um Schweizerinnen und Schweizer zur Organspende zu bewegen und den Engpass zu beseitigen.

Bei solch knappen medizinischen Ressourcen stellt sich allerdings eine zentrale Frage: Wie werden sie fair zugeteilt? Ethiker haben Kriterien entwickelt, die als eine Art moralischer Kompass gelten, um eine m?glichst gerechte Zuteilung zu gew?hrleisten.

Ein theoretisch m?glicher Ansatz w?re beispielsweise, dass die Kr?nksten ein knappes medizinisches Gut priorit?r erhielten. Weitere m?gliche Ans?tze sind: ein Losentscheid, das First-come-first-served-Prinzip (Abarbeiten einer Warteliste), eine priorit?re Zuteilung an die Patienten mit den gr?ssten Erfolgsaussichten bei der fraglichen Therapie (Prognose), an die j¨¹ngsten unter ihnen, oder auch eine Kombination der drei Kriterien Alter, Prognose und Losentscheid.

Fairness-Kriterien unter der Lupe

Doch nicht alles, was Ethiker als moralisch richtig ansehen, betrachten Laien ebenso. Die Forscher Pius Kr¨¹tli von der ETH Z¨¹rich und Timo Smieszek von Public Health England haben deshalb von Ethikern aufgestellten Fairness-Kriterien einem ?Reality Check? unterzogen. Ihre interdisziplin?r ausgef¨¹hrte Studie ist vor kurzem in der Fachzeitschrift PLOS One erschienen.

Um herauszufinden, wie wichtige Anspruchsgruppen die ethischen Normen beurteilen, erarbeiteten die Forscher einen umfangreichen Fragebogen. Dieser umfasste neun Kriterien zur fairen Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen. Die befragten Personen mussten diese Kriterien auf drei hypothetische Szenarien anwenden: den Ersatz eines Organs, die Bettenvergabe im Pandemiefall und der Einsatz eines k¨¹nstlichen H¨¹ftgelenks zur Steigerung der Lebensqualit?t. Auf einer Skala von 1 bis 7 mussten die Befragten beurteilen, f¨¹r wie gerecht sie die Kriterien halten. Zu den 1267 Personen, die den Online-Fragebogen ausf¨¹llten, z?hlten Laien, Mediziner, Medizinstudierende und weitere Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen.

Laien und Mediziner uneins

Laien bevorzugten in allen drei Situationen das Kriterium ?Kr?nkste zuerst?. Als fair beurteilten sie an zweiter Stelle die Warteliste und drittens die Prognose, wobei bei letzterem das Ergebnis nicht mehr so eindeutig ist. ?rzte hingegen betrachteten die Situationen differenzierter. Bei Organtransplantationen h?lt diese Berufsgruppe die Prognose f¨¹r das fairste Kriterium, gefolgt von ?Kr?nkste zuerst? und einer Kombination der Kriterien Alter, Prognose und Losentscheid, wobei diese fast gleich h?ufig genannt wurden. Mediziner halten zudem ¨C im Gegensatz zu Laien ¨C das Alter eines Patienten f¨¹r wichtiger als der Platz auf der Warteliste, die bei ihnen erst an f¨¹nfter Stelle kommt.

?Erstaunlich ist, dass Laien das Alterskriterium bei einer Organtransplantation als eher unfair einstufen, w?hrend Mediziner ¨C und Ethiker ¨C die Bevorzugung von Jungen f¨¹r einen solchen Eingriff als fair beurteilen?, sagt Kr¨¹tli. Junge zu favorisieren k?me einer Diskriminierung von Alten gleich, was Laien offenbar als eher ungerecht empfinden.

Prognose und Kr?nkste zuerst im Pandemiefall

Als gerechtestes Kriterium bei der Bettenzuteilung im Pandemiefall betrachten ?rzte die Prognose. Die Kr?nksten sollen in zweiter Priorit?t ber¨¹cksichtigt werden und die Kombination der Kriterien erhielt von ?rzten drittmeisten Zuspruch in puncto Fairness. Die Kr?nksten zuerst erachten Mediziner wie die Laien als das fairste Kriterium f¨¹r den Ersatz eines neuen Gelenks, was stellvertretend f¨¹r Lebenskomfort verbessernde medizinische Leistungen steht.

Als unfair empfanden alle befragten Gruppen das Kriterium, ob und wie sehr sich eine Person in ihrem Leben f¨¹r das Allgemeinwohl verdient gemacht hat. Und auch die Bereitschaft der Patienten zu einer finanziellen Beteiligung fanden die Befragten unfair, und zwar sowohl ?rzte als auch Laien. Ob es fair ist, individuelles Verhalten zu ber¨¹cksichtigen, beurteilen Laien und ?rzte gleichermassen kontrovers. F¨¹r die einen ist das fair, f¨¹r die anderen nicht.

Medizinstudierende beurteilen die Fairness-Kriterien ?hnlich wie ?rzte; das befragte Gesundheitspersonal hingegen argumentiert ?hnlich wie die Laien.

Graben zwischen Ethik und realer Welt

Nochmals anders als Mediziner und Laien beurteilen Ethiker die verschiedenen Kriterien. Besonders bei den Kriterien ?Kr?nkste zuerst? und Warteliste weicht ihre Einsch?tzung stark ab. Gewisse Ethiker beurteilen beispielsweise die Lotterie, also das Zufallsprinzip, als gerecht. Weder Mediziner noch Laien beurteilten dieses Kriterium als fair, und zwar in keiner der genannten Situationen. Auch teilen nicht alle Mediziner und Laien die Meinung einiger Ethiker, dass das Kriterium ?Kr?nkste zuerst? moralisch nicht zu rechtfertigen sei, da dies die k¨¹nftige Entwicklung einer Krankheit nicht ber¨¹cksichtige.

?Die Resultate unserer Umfrage stehen der aktuellen Haltung gewisser Ethiker zum Teil diametral entgegen?, sagt Kr¨¹tli. Dass Ethiker und Allgemeinheit in ihren Fairness-Urteilen weit auseinanderliegen, sei an und f¨¹r sich nicht ungew?hnlich. Ethiker vertreten die Ansicht, dass ethische Anforderungen nicht von empirischen Daten abgeleitet werden k?nnen. ?Andererseits k?nnen Ethiker solche empirischen Befunde nicht einfach ignorieren, will man verhindern, dass moralischer Anspruch und die Realit?t zu weit auseinanderklaffen und damit die ethische Argumentation als weltfremd abgetan wird?, betont der ETH-Forscher.

Ethiker nicht alleine massgebend

Dies sei auch einer der Treiber zur Erstellung dieser Studie gewesen: ?Wir wollen die Position der Ethiker spiegeln und mit einer empirischen Studie die von ihnen erstellten Fairness-Kriterien in der realen Welt pr¨¹fen.? Ihre Studie zeige deutlich, dass die Normen der Ethiker von der Haltung der Gesellschaft teilweise weit entfernt seien. ?Entscheidungstr?ger in Politik m¨¹ssen sich deshalb ¨¹berlegen, ob sie zur Entwicklung gemeinsamer Normen den Ethikern, Medizinern und der Allgemeinheit gleich viel Geh?r schenken wollen?, so Kr¨¹tli. ?Das Problem einer fairen Zuteilung knapper medizinischer Ressourcen ist ein schwieriges, zumal es auch praktikable L?sungen geben muss. Aber wir m¨¹ssen auch bedenken, dass die Verteilung von knappen medizinischen Leitungen auch demokratisch legitimiert werden muss. In dieser Hinsicht hoffen wir mit unserer Studie einen Beitrag zur Diskussion leisten zu k?nnen.?

Die Studie ist eine interdisziplin?re Zusammenarbeit zwischen Forschern, die mit mathematischen Modellen arbeiten, und dem Transdisziplinarit?tslabor (TdLab) des Departements Umweltsystemwissenschaften der ETH Z¨¹rich. Finanziert wurde sie von der Cogito-Stiftung. ?Diese Art von Forschung ist an der ETH eher un¨¹blich. Sie entsteht durch den Austausch und die Bereitschaft, ¨¹ber die Grenzen der eigenen Disziplin hinauszugehen?, betont Kr¨¹tli.