«Viele Studierende brauchen Führung»
Dieter Wüest übergab die Leitung der Akademischen Dienste im Juni nach 16 Jahren an Hermann Lehner, bisher Senior Scientist Fokus Lehre am Departement Informatik. Im Interview sprechen die beiden über den Einfluss der Corona-Krise auf die Lehre, über Visionen und konkrete Projekte.
Herr Wüest, Ihre Abteilung organisiert den Lehrbetrieb. Die Corona-Krise hat diesen auf den Kopf gestellt. Den Abschluss Ihrer Amtszeit haben Sie sich wohl anders vorgestellt…
Wüest: Ja, Anfang M?rz kam ein Punkt, an dem ich merkte, dass ich dieses letzte Halbjahr ganz anders erleben werde, als ich dachte. Dass alles noch einmal neu wird. Im April h?tte ich aus- serdem an der Curling-Senioren-WM in Kanada mitgespielt, das w?re ein Highlight gewesen. Auch das ging bachab. Das alles war eine mentale Umstellung, die ziemlich tief gegangen ist.
Wie hat sich Ihre Arbeit ver?ndert?
Wüest: Seit M?rz besch?ftige ich mich praktisch ausschliesslich mit dieser Notsituation. Wir haben den Unterricht auf online umgestellt, mussten Prüfungen neu organisieren und kl?ren, wie wir Studierenden in der vorlesungsfreien Zeit wieder Arbeitspl?tze zur Verfügung stellen k?nnen. Und vor allem L?sungen erarbeiten für das Herbstsemester. Damit war bereits Hermann Lehner besch?ftigt.
Und mittendrin h?ren Sie als Leiter der Akademischen Dienste auf – das klingt, als würde man aus dem fahrenden Zug springen…
Wüest: Das ist schon speziell. Es ist auf der einen Seite ein ungutes Gefühl, jetzt einfach mitten in der Krise auszusteigen und die anderen machen zu lassen. Auf der anderen aber auch eine Erleichterung, dass diese zehrende Situation für mich ein Ende hat.
?Trotz allem habe ich den Eindruck, dass klassische Formen der Lehre noch lange bestehen werden.? Dieter Wüest
Herr Lehner, wie ist es für Sie, in voller Fahrt einzusteigen?
Lehner: Es ist recht anspruchsvoll. Den gr?ssten Teil lerne ich jetzt halt gleich ?on the job?, in der Krise. Der Vorteil: Man lernt die Leute fast besser kennen, weil man sehr schnell L?sungen finden und dadurch sehr intensiv zusammenarbeiten muss.
Sie erfahren es an der Front: Wie ver?ndert Corona die Lehre?
Wüest: Was jetzt geschehen ist, entspricht nicht unserer Vorstellung der idealen Lehre. Wir sind eine überzeugte Pr?senz- universit?t. Dass die digitale Welt hilft, die Lehre zu verbessern, steht ausser Frage. Aber die Krise hat uns über Nacht zu Umstellungen gezwungen.
Lehner: Wir mussten und konnten wegen der Krise sehr viele Konzepte ausprobieren. Wenn wir Glück haben, beschleunigt das die Digitalisierung der Lehre. Nicht indem das eine das andere ersetzt, sondern indem die digitalen Formen den Pr?senzunterricht erg?nzen, sodass die Vorteile von beiden Welten zum Tragen kommen. Etwa indem der Stoff online jederzeit verfügbar ist und die Dozierenden den pers?nlichen Kontakt für Vertiefungen, Fragen und Diskussionen nutzen k?nnen.
Wüest: Trotz allem habe ich den Eindruck, dass klassische Formen noch lange Bestand haben werden. Wir haben sehr unterschiedliche Studierende – auch solche, die viel Unterstützung und Führung ben?tigen. Formen, die viel Selbstst?ndigkeit erfordern, sind auch sehr anspruchsvoll. Ein erstes Semester, das nur noch aus Lehrformen bestehen würde, bei welchen man die Lerninhalte selber erarbeiten muss und in sogenannten Flipped Classrooms in der Vorlesung übt, das kann ich mir nicht vorstellen. Ein grosser Teil der Studierenden würde dabei scheitern.
Wohin soll sich die Lehre entwickeln?
Lehner: Ich stimme Dieter Wüest zu, der digitale Unterricht kann den H?rsaal nicht ersetzen, aber erg?nzen. Digitale Mittel k?nnen darüber hinaus dazu beitragen, dass die Lehre der ETH Zürich für m?glichst viele zug?nglich ist. Ich würde mir wünschen, dass der digitale Teil des Unterrichts m?glichst offen gestaltet ist, sodass grunds?tzlich jede und jeder Zugang haben kann. In meinen Augen ist das ein Auftrag der ETH.
Welche Projekte stehen zuoberst auf Ihrer Liste?
Lehner: Die Lehrbetriebs-Applikationen. Sie sollen künftig nicht mehr nur auf den operativen Betrieb fokussieren, wie das Erfassen von Noten oder die Belegung von Kursen, sondern Studierenden, Dozierenden und der Administration im Alltag auch Analysen und Auswertungen erm?glichen. Ein weiterer Punkt ist die Skalierbarkeit des Lehrbetriebs. Dieser muss für immer mehr Studierende funktionieren. Dazu geh?ren nicht nur Applikationen, sondern auch Unterrichtsr?ume oder Stundenraster.
Wüest: Früher waren Applikationen wichtige Werkzeuge. Heute sind Informatiksysteme Umgebungen, in denen sich die ganze Lehre abspielt, wie in einem 2024欧洲杯开户_欧洲杯APP下载-投注|官网. In der momentanen Corona-Situation umso mehr. Kurse finden dort statt, alle Daten sind dort, und alle Prozesse laufen darin ab. Der Schritt von einer Sammlung von Tools hin zu einem integrierten digitalen 2024欧洲杯开户_欧洲杯APP下载-投注|官网, der steht aber noch an.
Herr Wüest, welche Momente bleiben Ihnen nach 16 Jahren am st?rksten in Erinnerung?
Wüest: Das eine Highlight aus den letzten 16 Jahren gibt es nicht. Fast die gr?sste Befriedigung ist eigentlich, dass uns über die ganze Zeit immer gelungen ist, von grossen Pannen verschont zu bleiben. Wir waren immer bereit, und es hat funk- tioniert, wenn wir grosse Neuerungen durchgeführt haben.
Was waren schwierige Momente in Ihrer Arbeit?
Wüest: Immer wenn es um Personelles ging. Wir mussten zum Beispiel Teams aufl?sen, und es gab Mitarbeitende, für die wir neue L?sungen suchen mussten. Das bleibt einem leider fast am st?rksten in Erinnerung.
Sie haben beide selber an der ETH studiert. Wie war das Studium damals im Vergleich zu heute?
Lehner: Die Orientierung im Studium war viel einfacher. Es war relativ klar, wie man ein Studium beginnt, wie es verl?uft und wie man es abschliesst. Heute gibt es sehr viel mehr M?glichkeiten und Optionen, die das Studium komplex machen.
Wüest: Ja, das stimmt. Der ?bergang zu Bologna – zum Bachelor- und zum Masterstudiengang – hat das Studium sehr viel dichter gemacht. Davor gab es auch einmal ein Semester- ende ohne Prüfungen. Das gibt es heute nicht mehr. Und wenn man einmal nicht besteht, kann man das zeitlich fast nicht mehr aufholen. Deshalb gibt es heute auch mehr Studierende, die nicht in der Regelstudienzeit abschliessen. Selbst Studierende mit guten Noten brauchen heute oft l?nger. Allein schon deshalb, weil es so viele unterschiedliche F?cher zu belegen gibt. Ich weiss nicht, ob das Studium schwieriger geworden ist, aber es ist ganz sicher dichter geworden.
Und wie hat sich die ETH ver?ndert?
Wüest: Ich habe den Eindruck, es ist alles vielschichtiger geworden. Wir haben eine unglaubliche Kadenz von Initiativen, Projekten und Weiterentwicklungen, die von allen Seiten lanciert werden. Ich spüre an der ETH auch eine Erwartungshaltung, dass man m?glichst viele Ideen weiterverfolgt. Ich begrüsse dieses ?Machertum?. Und wir waren selber auch bei vielen Projekten beteiligt. Als umsetzende Abteilung ist das aber nicht immer einfach zu stemmen.
?Ich wünsche mir, dass der digitale Teil des Unterrichts m?glichst offen gestaltet ist, sodass grunds?tzlich jede und jeder Zugang hat.?Hermann Lehner
Herr Lehner, worauf wollen Sie Ihre Arbeit konzentrieren, was ist Ihnen wichtig?
Lehner: Unsere Aufgabe ist es, für Studierende, Dozierende und die Administration einen m?glichst effizienten Alltag zu erm?glichen und einen guten Service zu bieten. Wir brauchen eine Digitalisierung des Lehrbetriebs, die unsere Studierenden und Mitarbeitenden unterstützt und die Komplexit?t reduziert – durch Automatisierung, dort wo es sinnvoll ist. Sodass jeder sich auf das konzentrieren kann, was wichtig ist.
Was motiviert Sie für die Stelle, die Sie antreten?
Lehner: Mich treibt die Passion für die Lehre an, das tut sie schon lange. Ich komme aus der Informatik – sehe diese aber immer als Wegbereiter und Werkzeug an. Wir arbeiten mit Menschen für Menschen, darum geht es.
Weitere Informationen
Dieter Wüest ist in Burgdorf aufgewachsen, studierte an der ETH Zürich Elektrotechnik und schloss sein Studium 1985 ab. Nach unterschiedlichen Stationen innerhalb der ETH leitete er die Abteilung Akademischen Dienste (AkD) von Dezember 2004 bis Juni 2020. Der ETH bleibt er weiterhin erhalten: Ab August 2020 übernimmt er im Strategieprojekt rETHink eine Rolle bei der Organisation der zentralen Organe.
Hermann Lehner ist in Bürchen aufgewachsen, studierte Informatik an der ETH Zürich und promovierte im Jahr 2011. Nach einem Zwischenstopp in der Wirtschaft kehrte er 2016 an die ETH zurück und entwickelte neben seiner Lehrt?tigkeit am Departement Informatik die innovative Lernplattform ?Code Expert?, die von Studierenden fast aller 2024欧洲杯开户_欧洲杯APP下载-投注|官网 genutzt wird. Von 2017 bis 2020 war er Studienkoordinator des Departements Informatik.