Wachstum – bisher und künftig
Zeitungen und ?gewichtige? Stimmen aus Politik und Wirtschaft beklagen den ?konomischen Kriechgang in fast allen L?ndern der westlichen Welt. H?heres wirtschaftliches Wachstum wird allenthalben gefordert. Doch die hohen Zuwachsraten von einst sind heute illusorisch – gefordertes und reales Wachstum klaffen zunehmend auseinander.
Eine wachsende Wirtschaft gilt bisher als wichtiger Indikator für den ?konomischen Erfolg eines Landes, weil Wachstum das Potenzial zugeschrieben wird, Wohlstand zu sichern und zentrale gesellschaftliche Probleme zu vermeiden (siehe dazu auch meinen ersten Blogbeitrag). Fehlt Wachstum, entstehen Krisen. Hohe Wachstumsraten werden deshalb als notwendig erachtet und unabl?ssig gefordert. Doch die Erwartungen decken sich nicht mit der Realit?t. Das zeigt ein Blick auf die Wachstumsstatistiken verschiedener L?nder einschliesslich der Schweiz.
Exponentielles Wachstum
Was bedeutet es, wenn wir von konstanten oder steigenden Wachstumsraten sprechen? Eine j?hrliche Wachstumsrate von beispielsweise ein oder zwei Prozent über mehrere Jahre bedeutet exponentielles Wachstum. Dabei beschleunigt sich das absolute Wachstum – der Zuwachs w?chst. Aus der Biologie wissen wir, dass exponentielles Wachstum dauerhaft nicht m?glich ist. Exponentielles Wachstum ist auch in Gesellschaft und ?konomie mittelfristig schwer vorstellbar. Es bedingt, dass wir immer mehr produzieren, konsumieren und investieren müssten – nicht nur gleich viel mehr wie im Vorjahr (was linearem Wachstum entspr?che), sondern st?ndig zus?tzlich mehr.
Die ?konomische Realit?t
Um die Wirtschaftskraft eines Landes zu messen, wird das Bruttoinlandprodukt BIP verwendet. Es beschreibt den Wert aller Produkte und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert und auf dem Markt gehandelt werden. Das reale BIP-Wachstum der Schweiz verlief in den letzten 50 Jahren nicht exponentiell, sondern linear, wie nachfolgende Graphik für das BIP/Kopf zeigt. Dasselbe gilt für das gesamt?konomische Wachstum (also das Wirtschaftswachstum der Schweiz), allerdings auf etwas h?herem Niveau (für Deutschland siehe [1]).
Dass die Wirtschaft linear wuchs, zeigt auch der Blick auf einzelne Perioden des Wachstums des Schweizer BIP von 1961 bis 2013 (siehe Tabelle): Zu Beginn der Periode (1961 – 1965, Zeile a) waren die Raten deutlich h?her als in den jüngsten Jahren (2009 – 2013, Zeile b), doch das absolute Wachstum in den beiden Zeitschnitten unterscheidet sich kaum. Der Grund für die unterschiedlichen Raten ist, dass sie heute wegen des hohen Ausgangsniveaus geringer ausfallen als früher. Weiter zeigen die Raten des gesamt?konomischen BIP-Wachstums und des Pro-Kopf-Wachstums, dass die Schweizer Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten ohne deutliche Bev?lkerungszunahme weniger gewachsen w?re. Insbesondere pro Kopf w?chst das BIP nur noch bescheiden. Dabei unterscheidet sich die Schweiz kaum von Nachbarl?ndern.
Anhaltende Wachstumsdebatte
Ich habe bereits angesprochen, dass exponentielles Wachstum auf Dauer nicht m?glich ist. Doch immer wieder h?rt man das Gegenteil, wie kürzlich von economiesuisse: Der Verband identifizierte sieben Wachstums-mythen. Einen Mythos beschreibt der Verband folgendermassen: ?Exponentielles Wirtschaftswachstum ist langfristig nicht m?glich? [3].
Gegen solche Aussagen lassen sich verschiedene Theorien und Argumente einwenden: Der amerikanische ?konom R.J. Gordon meint, dass die Wachstumsdynamik der Nachkriegszeit durch grunds?tzliche Erfindungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Sanit?rsystem, Elektrizit?t, Antibiotika, Dampfmaschinen und Benzinmotoren etc.) bestimmt war, und sp?tere Erfindungen kein solches Wachstumspotential mehr bergen [4]. Der franz?sische ?konom J. Gadrey beobachtet, dass die Produktivit?tszuw?chse der Wirtschaft rückl?ufig sind, auch weil sich ?konomien zunehmend in Richtung Dienstleistung entwickeln [5]. Bonaiuti (2014) begründet die rückl?ufigen Produktivit?tszuw?chse mit den immer komplexeren ?konomischen und gesellschaftlichen Systemen [6]. Und schliesslich sind die ?kologischen Grenzen zu nennen. Die biotischen und abiotischen Ressourcen sind begrenzt, wie auch die F?higkeit der ?kosysteme, sich zu erneuern. Der sogenannte Overshoot-Day ist bereits im August – der Tag im laufenden Jahr also, an dem die biotischen Ressourcen, die w?hrend eines Jahres nachwachsen, verbraucht sind. Der Aufwand, etwa um Ressourcen zu gewinnen und zu verarbeiten, nimmt zu, die Produktivit?t sinkt. Die Preise steigen, Wachstum wird gebremst.
Wie geht es weiter mit dem Wachstum?
Die oben genannten Zahlen und Fakten lassen davon ausgehen, dass wir auch künftig kein exponentielles Wachstum haben werden, sondern h?chstens ein lineares. Und lineares Wachstum bedeutet rückl?ufige Wachstumsraten. Deshalb scheint die Forderung nach einem zweiprozentigen Wachstum auf Pro-Kopf-Ebene g?nzlich unrealistisch – zwei Prozent werden oft gefordert, weil ungef?hr dann die Arbeitslosigkeit nicht zunehmen sollte und die ?ffentlichen Haushalte bislang mit dieser Wachstumsrate rechnen. Selbst die Schweizer Wirtschaft als Ganzes wird eine solche Rate kaum mehr l?ngerfristig erreichen, denn hohe Einwanderung und ein sehr günstiges ?konomisches Umfeld sind zunehmend unwahrscheinlich. Modelle des seco sagen mittel- und langfristig ein sehr niedrigeres Potentialwachstum voraus [7].
Konzepte oder gar L?sungen, wie ?konomien ohne Wachstum funktionieren k?nnen, sind (noch) wenig vorhanden und noch weniger verbreitet. Wir sollten uns ernsthaft die Frage stellen, wie wir unsere Gesellschaft und Wirtschaft gestalten wollen, wenn es kein oder kaum mehr Wachstum gibt.
Weiterführende Informationen
[1] Institut für Wachstumsstudien (2013). Kernaussagen des externe Seite Instituts für Wachstumsstudien. 3. Edition (2013)
[2] Zahlen von der Ameco-Datenbasis (BIP-Werte in Preisen von 2005), Stand Oktober 2014.
[3] Economiesuisse (2014). externe Seite Mythen, Fakten und Denkanst?sse zur wirtschaftlichen Entwicklung der Schweiz, Zürich.
[4] Gordon, R. J. (2012). Is U.S. Economic Growth Over? Faltering Innovation Confronts the Six Headwinds. NBER Working Papers 18315. National Bureau of Economic Research, Inc.
[5] Gadrey, J. (2011). Adieu à la croissance. Paris: Les Petits Matins.
[6] Bonaiuti, M. (2014). The Great Transition. London and New York: Routledge Studies in Ecological Economics.
[7] Surchat (2011). Langfristige Szenarien für das BIP der Schweiz. Die Volkswirtschaft(6): 9-12.